Vorschläge zur Bekämpfung der »Schuldistanz«

Das Jugendamt und die Schule müssen strukturell und konzipiert zusammenarbeiten. Es sollte meiner Meinung nach jeder Schule ein Jugendamtsmitarbeiter zugeordnet werden, der dort auch ein Büro hat und in regelmäßigen Abständen in der Schule erscheint, um mit den Lehrkräften die Problemfalle zu erörtern. Daran anschließend hat ein Abgleich mit den beim Jugendamt vorliegenden Erkenntnissen zu erfolgen. Kommen zur Schuldistanz noch weitere Risikofaktoren hinzu, ist umgehend eine Familienhilfe zu installieren. Kooperieren die Eltern nicht, darf auf § 1666 BGB hingewiesen werden. Die Vorschrift bestimmt bei Gefahrdung des körperlichen, seelischen oder geistigen Wohls des Kindes und gleichzeitig nicht vorhandenem Elternwillen, die Gefahr abzuwenden, dass das Familiengericht, das dann umgehend mit dem Fall befasst werden sollte, die notwendigen Maßnahmen zu treffen hat, um der Gefahrdung des Kindeswohls entgegenzuwirken. Hierzu gehört die Verpflichtung der Eltern, Hilfen anzunehmen, und das Gebot, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen. Den Eltern kann vom Gericht aufgegeben werden, sozialpädagogische Einzelbetreuung in Anspruch zu nehmen oder das Kind in eine Tagespflege zu geben, wenn die Betreuung nicht angenommen wird, und schließlich kann das Personensorgerecht für das Kind teilweise auf das Jugendamt oder einen Pfleger übertragen werden. Sozusagen als letzte Eskalationsstufe kann es auch zu einer Entziehung des Aufenthaltsbestimmungs- oder des gesamten Sorgerechts kommen. Von letzterem Mittel ist sicherlich nur im äußersten Fall Gebrauch zu machen. Dennoch sind alle Maßnahmen angemessene Mittel, den Eltern zu verdeutlichen, dass sie sich am Fortkommen des Kindes zu beteiligen haben und es neben dem grundgesetzlich durch Art. 6 GG geschützten Elternrecht auch Elternpflichten gibt. Ebenfalls aus Art. 6 GG folgt schließlich das staatliche „Wächteramt". Der Staat hat die Kinder notfalls vor ihren Lebensbedingungen zu schützen.

Ich spreche mich immer wieder und auch hier für die Einführung geschlossener Unterbringungsmöglichkeiten für absolute Härtefalle aus, bei denen nichts mehr hilft - man denke an die Kinder der „arabischen" Großfamilien. Ansonsten wachsen die Kinder weiterhin in einem katastrophalen Umfeld auf, dem sie niemals entrinnen können. Natürlich meine ich nicht die Heimerziehung im Stile der fünfziger und sechziger Jahre, bei der es überwiegend um Verwahrung ging. Die Überlegungen sollten sich darauf richten, internatsähnliche Betriebe aufzubauen, die eine gesunde Mischung aus Lernen mit praktischem Bezug und Freizeitgestaltung bieten. Nahezu jedes Kind hat Talente. Wenn man sich die Mühe macht, diese zu finden und zu fördern, wird man Erfolge erzielen. Ohne Grenzsetzung und geregelten Tagesablauf überlassen wir Kinder aus schlimmsten Verhältnissen dagegen ihrem zwangsläufigen Schicksal. Berlin hat seit Herbst 2009 das erste sogenannte Schulschwänzerinternat „Leben und Lernen". Es bietet gegenwärtig 16 Schülerinnen und Schülern, bei denen noch nicht Hopfen und Malz verloren sind, die Möglichkeit, die gesamte Woche über in der Einrichtung zu bleiben und das Wochenende zu Hause zu verbringen. Das Angebot kann auf 48 Plätze gesteigert werden. Das Internat ist keine geschlossene Einrichtung und deshalb für Härtefälle nicht geeignet. Es richtet sich an gefährdete Familien, bei denen aber kein „Drehtüreffekt" zu erwarten ist. Damit ist gemeint, dass die Kinder die Einrichtung durch die Vordertür betreten und durch die Hintertür gleich wieder verschwinden. Man vermeidet mit dieser Vorgehensweise sicher in vielen Fällen das unsägliche Herumreichen gefährdeter Schüler von einer Einrichtung in die nächste.

Die Zurückhaltung einiger Schulen und Jugendämter gegenüber einer Zusammenarbeit mit der Polizei ist unzeitgemäß. Hier sind, zumindest in zugespitzten Lagen, gegenseitige Informationsflüsse unabdinglich. Ein Kind, das mehrfach bei der Polizei aufgefallen ist, hat mit großer Wahrscheinlichkeit auch schulische Probleme, die oft auch in strafbaren Handlungen innerhalb der Schule zum Ausdruck kommen. Diese müssen meiner Meinung nach alle angezeigt werden. Lehrerinnen und Lehrer verschiedener Berliner Schulen teilen mir zunehmend mit, dass sie bislang häufig versucht haben, selbst Gewaltvorfälle mit den eigenen pädagogischen Mitteln zu lösen, hier aber inzwischen an ihre Grenzen stoßen. Die Polizeibeamten wissen darüber hinaus manchmal, wer mit wem welche Taten begeht und ob sich bereits Bandenstrukturen entwickeln. Dies ist sowohl für die Vorgehensweise des Jugendamtes als auch für die der Schule von Belang. Vielleicht lebt das Kind in einer Familie, in der die Eltern und Geschwister bereits straffällig geworden sind. In derartigen Situationen muss staatlicherseits schneller und konsequenter reagiert werden als in einer nur vorübergehenden Notlage.

Datenschutzrechtliche Bedenken gegen eine Kooperation zwischen den Schulen und der Polizei auch über den Einzelfall hinaus liegen meiner Ansicht nach nicht vor. Und selbst wenn sie vorlägen, wären sie zum Wohle der Kinder zu beseitigen: „Kinderschutz vor Datenschutz" muss auch in diesem Zusammenhang die Devise lauten. Denn der Kinderschutz kann längst nicht mehr darauf reduziert werden, nur in Fällen schlimmster Verwahrlosung in Aktion zu treten. Zunehmend müssen die Kinder vor ihren allgemeinen Lebensbedingungen innerhalb der Familien geschützt werden.

Schließlich liegt es nicht zuletzt bei den Familien, durch rechtzeitige und nachhaltige Kooperation staatlicher Reaktion zu entgehen. Wenn sie dem nicht Folge leisten, hat das Kindeswohl Vorrang. Erfolg versprechende Hilfe für den Schüler ist durch langwierige Verwaltungsvorgänge unter Beteiligung vieler Personen und Institutionen nicht in kurzer Zeit zu gewährleisten. Kindheit und Schule finden aber immer „jetzt" statt. Schule bedeutet Bildung und Bildung heißt Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe.

Verbesserung des schulischen Angebots

Es darf vom Staat erwartet werden, dass er sein schulisches Angebot der verschlechterten Ausgangslage, die er durch jahrzehntelanges Zögern und Zaudern zumindest mitverursacht hat, anpasst. Dazu zählt, dass die Hauptschulen als reines Auffangbecken für die „Bildungsverlierer" abgeschafft werden müssen. Begrüßenswert erscheint in diesem Zusammenhang grundsätzlich die Einführung der sogenannten Sekundärschulen in Berlin, auch wenn ich gegenwärtig noch nicht so recht durchschaue, wie das Konzept umgesetzt werden soll. Danach gibt es bei den weiterführenden Schulen nur noch zwei Typen, nämlich die integrierte Sekundärschule und die Gymnasien - immerhin werden diese nicht abgeschafft, was ebenfalls diskutiert wurde. Die Sekundärschule fasst Haupt-, Real- und Gesamtschulen zusammen und ist im Grunde eine Ganztagsschule, was ich sehr begrüße. Nach zehn Schuljahren wird der mittlere Schulabschluss erreicht, der Schüler kann auf der Sekundärschule aber auch das Abitur ablegen. Die Grundschule ist aufgefordert, für jeden Schüler eine Förderprognose zu erstellen und mit den Eltern ein verbindliches Beratungsgespräch für den Übergang auf die weiterführende Schule zu führen. Die Eltern sollen dann zwar das Recht haben, die gewünschte Schulart und die entsprechende Schule zu wählen, haben jedoch naturgemäß keinen Anspruch auf die bevorzugte Einrichtung. Da schwant einem sogleich das drohende Chaos. Der „Ruf" einer Schule ist für Eltern oft das entscheidende Kriterium. Sowohl bei bestimmten Sekundärschulen als auch und vor allem auf bestimmte Gymnasien wird es zu entsprechenden „Runs" kommen, während andere, vornehmlich diejenigen in „Problemvierteln", zu kämpfen haben werden. Wie erfolgt dann die Verteilung der Schülerinnen und Schüler? 60 Prozent sucht die Schulleitung selbst aus. Mindestens 30 Prozent werden zugelost. 10 Prozent bleiben Härtefällen vorbehalten. Das Losverfahren ist mir bislang unklar. Ist ein reines Losverfahren ohne Berücksichtigung von Wohnort und Förderprognose gemeint? Nehmen wir an, Mandy aus Marzahn im Ostteil Berlins wird einem Gymnasium in Spandau ganz weit im Westen der Stadt zugelost. Dann fährt sie morgens eine Stunde quer durch die Stadt. Auf der höheren Schule muss sie ein Probejahr bestehen. Schafft sie das nicht, folgt ein Wechsel auf eine Sekundärschule. Schafft sie es, ist später ein Wechsel nicht mehr vorgesehen. Das erscheint mir für die praktische Umsetzung nicht gerade einfach zu sein. Selbst im Ganztagsbetrieb ist eine große räumliche Entfernung zwischen dem sonstigem sozialen Nahfeld und der Schule nicht unproblematisch. Ob die Eltern zum Besuch eines Elternabends den Weg nach Spandau auf sich nehmen? Ob Mandy Freundschaften pflegen kann? Ich selbst wäre jedenfalls ohne meine Schulkameraden in der Nähe meines Elternhauses bei der Erledigung der Hausaufgaben für so unverständliche Fächer wie Mathematik verloren gewesen. Vielleicht ist das aber auch überflüssig, wenn der relevante Unterrichtsstoff in der Schule umfänglich bearbeitet werden kann. Richtig gut finde ich in jedem Fall, dass Lernen und Praxis in der Sekundärschule miteinander verknüpft werden sollen. Daran fehlt es bei den Jugendlichen in Neukölln im Regelschulbetrieb. Viele haben einen Zugang zu praktischer Tätigkeit und die Theorie fällt ihnen leichter, wenn sie ein Gefühl dafür entwickeln, wozu das Erlernte gut ist. Auch die verbindliche Kooperation zwischen Jugendämtern und Schulen ist begrüßenswert. Gleiches gilt für die Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten und Grundschule sowie Grundschule und Sekundärschule. Allerdings frage ich mich beklommen, weshalb diese nicht schon längst existiert. Eine konzeptionelle Gestaltung des Übergangs von der Kita zur Grundschule findet nach meinem Erkenntnisstand nicht statt.

Insgesamt handelt es sich um ein ehrgeiziges Unternehmen, das zum 1. August 2010 „ans Netz gehen soll". Ein Jahr später ist wohl realistischer. Schließlich müssen sich mehrere bisher selbstständige Schulen zusammenfinden. Was für eine logistische Herausforderung! Der Versuch, durch die Zweigliedrigkeit des Systems eine Chancenangleichung der Schwächeren nach oben zu ermöglichen, ist erkennbar. Desgleichen soll eine Durchmischung von Kindern aus unterschiedlichen räumlichen und sozialen Strukturen auf den Weg gebracht werden. Meine hoffentlich unbegründete Befürchtung ist, dass die Eltern der bisherigen Real- und Gesamtschüler aus Angst, das Niveau der zusammengelegten Schulen könnte sich verschlechtern, alles versuchen werden, um ihre Kinder auf Gymnasien oder Privatschulen unterzubringen. Dies hätte dann tatsächlich eine Herabsetzung des Sekundarschulniveaus zur Folge.

Ganztagskindergärten sollten meiner Meinung nach dem Ganztagsschulbesuch vorgelagert sein. Gerade die Kinder aus Migrantenfamilien starten oft ohne Kindertagesstättenerfahrung mit einem entsprechenden Nachteil bereits in die Grundschule. Zu Hause wird Türkisch oder Arabisch gesprochen. Ein deutsches Kind kommt im Schnitt mit einer Vörlesezeit seitens der Eltern und Großeltern von 3000 Stunden in die Grundschule - was allerdings für die deutsche Unterschicht zumeist nicht zutrifft. In zugewanderten Familien wird so gut wie gar nicht vorgelesen, und wenn, dann sicher nicht in deutscher Sprache. Wenn aber bereits sprachlich gravierende Unterschiede auch für die Kinder selbst erkennbar sind, erleben wir es in der Praxis häufig, dass die gegenseitigen Ressentiments bereits in den ersten Schuljahren beginnen. In dieser Phase entwickeln sich dann auch alsbald die ersten Frustrationen mit den entsprechenden Folgereaktionen.

So ist mir ein Fall bekannt, in dem ein elfjähriges Kind gegenüber seiner Lehrerin äußerte, sie habe ihm gar nichts zu sagen. Sie - die Lehrerin - sei Deutsche. Und Deutsche seien Freunde der Juden, und die seien Feinde der Araber, und deshalb befolge es die Anweisungen der Lehrerin nicht. Intervenierende Maßnahmen der Schule und des Jugendamtes fruchteten bereits zu diesem frühen Zeitpunkt nicht mehr. Vielleicht wäre diese Entwicklung zu verhindern gewesen, wenn das Kind spätestens ab dem dritten Lebensjahr selbst die Erfahrung gemacht hätte, dass man mit allen Kindern spielen und später auch lernen kann. Je jünger die Menschen sind, wenn sie sich begegnen und eine gemeinsame Zeit sinnvoll verbringen, umso nachhaltiger kann den oben zitierten Ansichten entgegengewirkt werden. Hiervon sind wir gegenwärtig meilenweit entfernt. Im Gegenteil höre ich von Direktoren von Neuköllner Schulen immer wieder und mit zunehmender Ratlosigkeit, dass die wenigen deutschen Kinder, die diese Schulen noch besuchen, unter starken Druck gesetzt werden und sich mit rassistischen Äußerungen demütigen lassen müssen. So heißt es unter den Schülern, Deutsche seien schwul, man brauche die Deutschen nicht, die Araber und Türken seien sowieso bald in der Mehrheit, und dann werde ohnehin alles anders. Hier sind bereits Abstumpfungsprozesse im Gange, die nicht hingenommen werden sollten. Das umgekehrte Phänomen der rassistischen Äußerungen gegenüber Migrantenkindern darf dabei nicht in den Hintergrund treten. Als ich hörte, dass im Westteil Berlins eine Lehrerin zu drei türkischstämmigen männlichen Schülern gesagt haben soll: „Ich kann mir eure Namen nicht merken, also seid ihr Ali 1 bis 3", verschlug es mir ebenfalls den Atem. Da kann man dann allerdings nur den „Leerkörper" zur Rechenschaft ziehen. Und umso wichtiger ist die Aufgabe, generell und massiv dem Rassismus entgegenzuwirken.

Ich halte es für unabdingbar, verbindliche Sprachtests für alle Kleinkinder einzuführen und den Kita-Besuch im Falle offensichtlicher Sprachdefizite zur Pflicht zu machen. Das müsste so umgesetzt werden, dass erst ein Sprachtest durchzuführen ist und gegebenenfalls umgehend Sprachförderung angeboten und dafür ein geeigneter Platz in einer Kita gefunden wird, in der schwerpunktmäßig die weitere Sprachförderung verfolgt wird. Allerdings muss auch hier repressiv agiert werden, wenn die Angebote nicht genutzt werden. Denkbar wäre, Eilentscheidungen des Familiengerichts herbeizuführen oder - derzeit gesetzlich noch nicht vorgesehene - Bußgelder zu verhängen, die allerdings wegen der schon erwähnten zeitlichen Verzögerung nicht unbedingt Erfolg versprechend sind.

Die Ausweitung der Schulstationen auf sämtliche Risikoschulen sollte erfolgen, um stets umgehend auf Konfliktlagen pädagogisch reagieren zu können. Der Bezirksbürgermeister Neuköllns, Heinz Buschkowsky, hat trotz der angespannten Haushaltslage, die eigentlich keinerlei Spielräume zulässt, für jährlich 1,2 Mio. Euro 16 Neuköllner Grundschulen mit Schulstationen ausgestattet, ohne dass andere Bereiche Kürzungen hinnehmen mussten. In einer Schulstation findet durch ausgebildete Sozialarbeiter eine sofortige Intervention bei Problemlagen statt, die von den Lehrkräften innerhalb der Klasse nicht mehr geregelt werden können. Allerdings musste parallel hierzu und ebenfalls auf Kosten des Bezirkes für jährlich 560.000 Euro an 15 Schulen ein privater Wachschutz eingerichtet werden. Diese Notwendigkeit ergab sich durch die Einwirkung schulfremder Personen in den Schulbetrieb hinein. Die Leser werden sich an Yilmaz, Hussein und Kaan erinnern. Der Wachschutz ist weder bewaffnet noch mit hoheitlichen Eingriffsrechten ausgestattet. Die Mitarbeiter dürfen lediglich die Schüler auffordern, sich als Schulzugehörige auszuweisen. Allein die Anwesenheit des privaten Wachschutzes hat die Gewaltvorfalle an Schulen bereits deutlich reduziert. Bürgermeister Buschkowsky wurde hierfür öffentlich stark kritisiert. Einen eigenen Vorschlag konnten seine Gegner allerdings nicht präsentieren.

Die Aktivitäten des Bürgermeisters, die sich inzwischen als sehr hilfreich erwiesen haben, offenbaren zugleich, dass es kein Gesamtkonzept zur Aufrechterhaltung eines tragbaren Schulbetriebs gibt. Sowohl die Einrichtung von Schulstationen und -projekten wie der „2. Chance", in denen die Schüler außerhalb des Regelunterrichts beschult werden, als auch die Einrichtung eines privaten Wachschutzes zeigen, dass die Institution Schule aus sich heraus nicht überall Herr der Lage ist. Deshalb sind die dargestellten Maßnahmen zwar zur Entspannung bestehender akuter Notlagen angebracht, langfristig ist jedoch nur die Stärkung der staatlichen Einrichtung Schule selbst geeignet, die Schule auch wieder zum Schonraum für die Menschen, die dort lehren und lernen wollen, zu machen.

Ich habe die Arbeit von Schulprojekten nicht zu kritisieren. Es gibt aber auch in diesem Bereich inzwischen zahllose Angebote, die nicht mehr zu überblicken sind. Problematische Schüler werden dort hingeschickt, wenn sie in ihrer bisherigen Klasse nicht mehr haltbar sind, was entweder an ihrem Betragen oder an ihren Leistungen, oft auch an beidem liegt. Was wird damit erreicht? Die Härtefalle sammeln sich, der Schüler „entkommt" erneut wenigstens vorläufig einer schwierigen Lage. Dies widerspricht der meiner Ansicht nach richtigen Grundidee, dass die Probleme dort zu lösen sind, wo sie entstehen, und nicht weitergereicht werden sollen.

Eine Schulklasse sollte nicht mehr als zwanzig Kinder umfassen. Geplant sind nach der oben kurz dargestellten Schulreform allerdings fünfundzwanzig Schülerinnen und Schüler pro Klasse.

Darüber hinaus ist die Bildungsbereitschaft der Eltern zu fördern, aber auch zu fordern. Der Einsatz spezieller Sozialarbeiter mit entsprechendem Migrationshintergrund mag hier hilfreich sein, kann aber sicherlich nicht als Standard erwartet und schon gar nicht geleistet werden. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meinen Vorschlag, die hauptsächliche Bearbeitung dieses Problems in der Verknüpfung zwischen dem Jugendamt und der Schule anzusiedeln. Wenn die gemeinsame Fallanalyse ergibt, dass die Familie Unterstützung in der Zusammenarbeit mit der Schule benötigt, soll sie diese auch erhalten.

Ich bin der Auffassung, dass die Angebote auf ein vernünftiges und vor allem überschaubares Maß zurückgeführt werden sollten. Wenn ich in einem neuen Buch der Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Titel „Wie erreichen wir Eltern?" etwas über „niederschwellige" Angebote wie gemeinsames Kochen und Kaffeetrinken, Elterntalks und multikulturelle Müttertreffs erfahre, dann kann ich nur darauf aufmerksam machen, dass viele Schulen, die ich besucht habe, bereits über diese Einrichtungen verfügen. Sie werden jedoch immer nur von einem geringen Teil der Familien genutzt.

Um die Bildungsbereitschaft der Eltern zu wecken und die Bedeutung von Unterricht auch für die Kriminalitätsprävention zu verdeutlichen, versuche ich seit längerer Zeit persönlich an die Eltern heranzutreten. Hierfür benötige ich Verbündete aus den betroffenen Ethnien, denn ich habe rasch gelernt, dass ich nicht zu einem „normalen" Elternabend zu kommen brauche. Denn da sind die Eltern selten zu finden. Deshalb kam ich auf die Idee, den Gesprächen mit den Eltern, die meinerseits durchaus keinen sozialtherapeutischen Ansatz haben sollten, einen anderen Rahmen zu geben. Ich überlegte, wen ich gewinnen könnte, und entschied mich für das Türkisch-Deutsche Zentrum (TDZ) in Neukölln. Dort empfing mich Mustafa Akcay. Er ist ein besonnener Mensch, dem ich mein Anliegen, mit Eltern, die nicht in die Schulen kommen, dennoch Gespräche führen zu wollen, nicht lange erklären musste. Er war bereits problembewusst und wollte eigentlich nur wissen, zu welchem Termin und an welchen Veranstaltungsort er Einladungen an die Eltern aussprechen solle. Er erklärte sich sogar bereit, die entsprechende Einladung zu gestalten und auf Kosten des TDZ drucken zu lassen. Begeistert beendete ich diesen ersten Termin und wandte mich voller Tatendrang mit dem gleichen Ziel, des Treffens mit arabischen Eltern, an die DAUG (Deutsch-Arabische unabhängige Gemeinde). Hier wurden zwar zunächst Bedenken geäußert, jedoch gründeten schließlich die DAUG und das TDZ zur Organisation der Elternabende ein „Bündnis für Berlin". Im Großen und Ganzen beschränkte sich meine Aufgabe darauf, den Entwurf des Einladungstextes vorzubereiten, der auch erklärenden Inhalt haben musste, da eine derartige Initiative bisher nicht existierte. Gemeinsam mit Arnold Mengelkoch, dem Migrationsbeauftragten von Neukölln, dachten die Vertreter der beteiligten Vereine und ich über einen passenden Veranstaltungsort nach. Schließlich wollten wir den Bezirksbürgermeister von Neukölln bitten, uns den Bezirksverordneten-Saal des Rathauses Neukölln zur Verfügung zu stellen. Wir beabsichtigten den Eltern damit das Gefühl zu geben, dass es uns wichtig ist, sie zu treffen und ins Gespräch zu kommen. Also warum nicht im Herzen des Bezirks an dem Platz, an dem sonst die Bezirksverordneten ihre Versammlungen abhalten und Entscheidungen treffen?

Bürgermeister Buschkowsky willigte ohne Zögern ein.

Ich denke, den türkischen Elternabend darf man getrost als Erfolg bezeichnen. Der Saal im Rathaus war überfüllt, einschließlich der Empore. Es waren, was mich besonders freute, viele Mütter erschienen. Sie hörten aufmerksam zu und stellten viele Fragen, aus denen sich ergab, dass trotz ihres teilweise langjährigen Aufenthalts in Deutschland nicht nur Sprachbarrieren bestehen, sondern auch keine Kenntnisse über die deutschen Institutionen und ihre Funktionen vorhanden sind. Es war aber spürbar, wie sehr sich die Mütter um ihre Kinder, speziell um ihre Jungen, sorgen und verstanden haben, welche Bedeutung dem Schulbesuch zukommt, um ein Abgleiten in kriminelles Verhalten zu verhindern. Eine eigentlich eher beiläufige Bemerkung meinerseits - dass ich glaube, alle Mütter wollten immer das Beste für ihr Kind, und das bedeute in Mitteleuropa nun einmal gesellschaftliche Teilhabe durch Bildung - brachte einhundert Kopftücher zum Kopfnicken. Das war ein mich sehr rührender Anblick. Auf die Mütter und jungen Frauen mit Migrationshintergrund kann man meiner Erfahrung nach setzen. Sie haben einen feinen Instinkt für Notwendigkeiten, denken ideologiefreier als viele Männer und sind häufig sehr ehrgeizig.

Der arabische Elternabend hingegen verlief weniger erfreulich. Es erschienen einige Funktionsträger aus den Verbänden. Viele Forderungen wurden erhoben: bessere Schulen, psychologisch geschulte Lehrer, Sozialarbeiter mit passendem Migrationshintergrund. Ein Vater, der nach eigenem Bekunden elf Kinder hat, schwang seine Gebetskette und äußerte, seine Töchter seien seine Ehre. Bildung für die Mädchen kam in seinen Plänen nicht vor. Eine sächselnde Konvertitin erwiderte ihm daraufhin, man sei als Muslima nicht in der Pflicht, arabische Männer zu bedienen, und selbstverständlich schicke sie ihre Tochter in die Schule.

Insgesamt habe ich aus den beiden Veranstaltungen den Eindruck mitgenommen, dass die türkischen Mitbürger deutlich problembewusster und ansprechbarer sind als die arabischen Eltern. Sie scheinen hinsichtlich des Integrationsprozesses bei allen Unzulänglichkeiten „eine Generation weiter" zu sein. Auf ihnen ruht meine Hoffnung, bei der Reduzierung der Schulprobleme in absehbarer Zeit erfolgreich zu sein.

Ich habe darüber hinaus beschlossen, die Elternarbeit fortzusetzen, jedoch kleinteiliger vorzugehen. Um speziell an die libanesischen Familien heranzutreten, ist es erforderlich, in die Verbände und Vereine zu gehen, um so mit einigen wenigen in einen intensiveren Austausch zu kommen. Das tue ich. Es ist jedoch von vornherein offenkundig, dass der Staat nicht in der Lage ist, den Bedürfnissen der arabischen Community im gewünschten Umfang nachzukommen. Es ist auch nicht seine Aufgabe. Er kann nur durchdachte und vernünftige Rahmenbedingungen schaffen. Deshalb dienen meine Zusammenkünfte mit diesem Teil der Bevölkerung ebenso dazu, diese Tatsache zu vermitteln. Hier müssen sich die Menschen, die teilweise schon viele Jahre unter uns leben, bewegen und von ihrer Anspruchshaltung Abstand nehmen.

Inzwischen habe ich viele weitere Schulen besucht. Stets wird nicht von der Schule, sondern von Kazim Erdogan eingeladen. Er ist Mitarbeiter der psychosozialen Dienste beim Bezirksamt Neukölln, aber eigentlich ist er viel mehr. Er betreut zahlreiche Projekte zur Förderung der Integration. Besonders fasziniert mich seine „Männergruppe". Dort treffen sich türkische Männer, um über ihre Probleme mit der eigenen Gewalttätigkeit gegenüber ihren Frauen und Kindern zu sprechen. Kazim Erdogan ist ein regelrechter Workaholic, der gut zu meinem Arbeitsstil des Hingehens und Anpackens passt. Ohne ihn wäre ich zu der präventiven Elternarbeit schlicht nicht imstande. Er kennt die Menschen im Kiez durch seine Arbeit im Amt und seine zahllosen Aktivitäten. Dementsprechend erscheinen zu den Elternveranstaltungen mehr Mütter und Väter, als ich es sonst erlebe. Leider nehmen die arabischen Familien auch hier wieder nicht teil. Die türkischen Eltern erzählen mir, die „Araber" hielten sich inzwischen für etwas Besseres. Sie sähen sich in der „Hackordnung" an den Schulen ganz oben. Darunter kämen die „Türken", dann die „Zigeuner" (gemeint sind die seit dem EU-Beitritt Rumäniens in Berlin stark vertretenen Sinti und Roma), und ganz unten befänden sich die Afrikaner. Ich bin erstaunt, das zu hören, erhalte diese Informationen aber immer wieder.

Insgesamt ist mir natürlich bewusst, dass man mit solchen Zusammenkünften keinen großen Durchbruch erzielt, aber ich hoffe auf einen SchneeballefFekt. Die Mütter sind untereinander bekannt und sprechen viel über die Kinder, wie es sicher alle Frauen auf der Welt tun, die Mütter sind. Kazim Erdogan sagt am Ende der Gespräche jedenfalls immer, er verlange, dass jede Frau, die heute anwesend war, beim nächsten Mal eine Nachbarin mitbringt. Er darf das so formulieren.

Zurück zu den Vorschlägen konzeptioneller Art: In den Lehrplan der Schulen sollte meines Erachtens das Erlernen von Sekundärtugenden aufgenommen werden. Gemeint sind hiermit: Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß, Pflichtbewusstsein und gegenseitige Rücksichtnahme - Verhaltensweisen, die von großer Bedeutung sind, um sich zum Beispiel erfolgreich für einen Praktikumsplatz oder später eine Ausbildung bewerben zu können. Mir ist klar, dass hier mehr der Bereich der Erziehung betroffen ist. Diese sollte im Elternhaus stattfinden, jedoch denke ich, dass die Schule die Kinder auch auf die unmittelbar anschließenden Bewerbungssituationen vorbereiten könnte.

In diesem Zusammenhang wäre es auch wünschenswert, die Zusammenarbeit zwischen den Schulen und der Wirtschaft zu verstärken. Hier sind sämtliche Unternehmen gefragt. Die Jugendlichen müssen bereits während der Schulzeit den Eindruck vermittelt bekommen, dass sich Schule lohnt, dass es Perspektiven für die Zeit danach gibt. Auch die Unternehmen haben ein Interesse an motivierten Nachwuchskräften. Ich sehe hier die Wirtschaft, die ständig einen Mangel an Fachkräften beklagt, in der Pflicht, sich konstruktiv einzubringen. Einigen Medienberichten habe ich in der letzten Zeit entnommen, dass es in diesem Bereich inzwischen Bemühungen gibt. Allerdings beklagen die Unternehmen den Wissensstand der Hauptschüler, der teilweise nicht einmal dem Grundschulniveau entspreche.

Den Umgang mit Medien und Gewalt könnte man ebenfalls in den Unterrichtsstoff aufnehmen. Dies sollte mit nachmittäglichen Aktivitäten verknüpft werden. Warum kann ein Anti-Gewalt-Projekt nicht präventiv an einer Schule tätig sein? Genauso erscheint es mir möglich, die Kinder z. B. in Workshops an einen vernünftigen Umgang mit den Medien heranzuführen. Weshalb nicht selbst einen Film drehen, der sich mit der Problematik des übertriebenen Konsums von Gewaltdarstellungen beschäftigt? Bei einem solchen Unternehmen wären dann beide Themenkreise sogleich miteinander verknüpft.

Das Ende der Geduld
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